Entwicklungshilfe bekämpft Fluchtursachen nicht

Süddeutsche  Zeitung – 19.07.2018

Mehr Geld aus der deutschen Haushaltskasse ist gut. Aber es wird die weltweite Migration nicht beenden. Vier Gründe, aus denen diese Illusion unrealistisch, zu kurzfristig und zynisch ist.

Gastbeitrag von Martin Bröckelmann-Simon

Das Interesse der Politik an Entwicklungszusammenarbeit wächst. Die entsprechenden Bundesmittel steigen auch im aktuellen Bundeshaushalt deutlich an. Endlich gerät dieses wichtige Thema aus dem Schattendasein heraus und erfährt die Zustimmung und Unterstützung, für die sich viele Fachleute schon lange einsetzen. Da müssten sich doch alle freuen, die sich für das Thema engagieren, oder? Doch so merkwürdig es klingt: Dieser Trend muss auch mit Sorge betrachtet werden.

Denn mit dieser neuen Attraktivität von Entwicklungszusammenarbeit ist eine fatale Engführung verbunden. Die Diagnose lautet: „Tunnelblick“. Der Tunnelblick macht es unmöglich, Dinge wahrzunehmen, die außerhalb dessen liegen, wofür sich jemand in erster Linie interessiert. Das prioritäre Interesse der Bundesregierung und vieler Politiker richtet sich spätestens seit 2015 auf die Bekämpfung der Ursachen von Flucht nach Europa. Diese wird nun in der gerade angelaufenen Legislaturperiode als die zentrale Aufgabe von Entwicklungszusammenarbeit verstanden, wobei sich die Aufmerksamkeit vor allem auf den Nahen Osten und die besonders nah an Europa liegenden Teile Afrikas konzentriert. Budgetzuordnungen und ein neuer Organisationsaufbau im Entwicklungsministerium unterstreichen dies.

Was ist daran schlecht? In der Tat, der extrem bedrängte Nahe Osten und der afrikanische Kontinent verdienen schon seit Langem unsere Aufmerksamkeit. Und ja: Das unerträgliche Sterben auf den Migrationsrouten muss ein Ende finden. Dass es dafür im Bundeshaushalt mehr Geld gibt, ist also keineswegs zu kritisieren. Der Trend muss sich vielmehr auch in den kommenden Haushaltsjahren fortsetzen.

Doch dieses zusätzliche Geld hat auch einen hohen Preis. Zu nennen wären da zunächst die geweckten Erwartungen: Die Ursachen der Flucht von global derzeit circa 66 Millionen Menschen liegen vorrangig in anhaltender Gewalt und fortgesetzten Menschenrechtsverletzungen in ihren Heimatländern. Solch komplexe Problemfelder lassen sich nicht kurzfristig beseitigen, hierzu bedarf es eines sehr langen Atems. Die tiefe Ratlosigkeit der internationalen Gemeinschaft angesichts der Konfliktlage in Nahost macht dies deutlich; eine tragfähige Friedenslösung liegt hier in weiter Ferne. Und erst recht braucht die weltweite nachhaltige Verbesserung der Lebensbedingungen der Armen viel Zeit und Geduld. Sie erfordert zudem auch von den reichen Ländern politische Konsequenzen, zum Beispiel in der Agrar-, Handels- und Rüstungspolitik. Ein tieferer Griff in die Haushaltskasse wird also den Migrationsdruck vor den Toren Europas nicht rasch mindern. Stattdessen könnte bei solchen politischen Zielvorgaben der alte Vorwurf neue Nahrung bekommen, dass Entwicklungszusammenarbeit ohnehin nichts bringe, da weltweit die Zahl der Vertriebenen und Geflüchteten innerhalb und außerhalb ihrer Landesgrenzen nicht sinkt, sondern weiter steigt.

Die zweite Gefahr besteht darin, dass – gegen alle Tatsachen – suggeriert wird, der verbesserte Entwicklungsstand eines Landes führe zu weniger Abwanderung. Ein Langzeitblick auf weltweite Migrationsbewegungen zeigt, dass dies keinesfalls so stimmt. Im Gegenteil: Mehr verfügbares Geld und ein durch Bildung, Medienzugang und Reisemöglichkeiten erweiterter Horizont verstärken die Sehnsucht nach neuen Perspektiven im Ausland. Ohnehin muss es letztlich, statt Migration abzuwehren, eher darum gehen, diese nüchtern als eine anthropologische Konstante zu begreifen, ihre Dynamik besser zu verstehen und ihre wirtschaftliche Logik zu akzeptieren. Grenzüberschreitende zirkuläre Arbeitsmigration etwa gehört zu den Lebenszyklen und Wirtschaftskreisläufen Westafrikas seit Langem konstitutiv dazu. Sie ist also dort entwicklungspolitisch etwas Gutes und nichts Schlechtes.

Flüchtlings- und Migrationspolitik Flüchtlingspolitik

 

Martin Bröckelmann-Simon, 61, ist als Geschäftsführer des katholischen Hilfswerks Misereor verantwortlich für den Bereich Internationale Zusammenarbeit.

(Foto: oh)

 

Die dritte Gefahr liegt außerhalb der eurozentrischen Tunnelperspektive. In einer globalisierten Welt können krisenhafte Entwicklungen von Venezuela bis Tonga für Deutschland und Europa ebenso relevant sein wie solche in Bayern oder Niederösterreich. Die Welt ist heute auf das Engste miteinander verknüpft, keiner kann sich dem entziehen; alle tragen Verantwortung für das Weltgemeinwohl und das Leben auf unserer Erde. Wir Europäer können es uns nicht leisten, Weltregionen wie zum Beispiel den Pazifik, das südliche Afrika oder Lateinamerika auszublenden. Und genauso wenig können die wohlhabenden Gesellschaften verantworten, Kernaufgaben von Entwicklungszusammenarbeit wie den Kampf gegen globale Ungleichheit und den Verlust der biologischen Vielfalt zu vernachlässigen; wir müssen überall für faire Handelsbeziehungen und den Rechtsstaat eintreten, für den Schutz der Menschenrechte und der Demokratie.

Weder Nord noch Süd noch einzelne Staaten gewinnen die Erde für sich allein

Der Einsatz für eine nachhaltige städtische Entwicklung auf den Philippinen oder in Peru ist so wenig sekundär wie derjenige für die Rechte von Straßenkindern in Brasilien, obwohl beides kaum in den Themenbereich Fluchtursachenbekämpfung einzuordnen ist. Auch die Reduktion klimaschädlicher Treibhausgase und Anpassungsmaßnahmen an die nicht mehr vermeidbaren Klimawandelfolgen sind drängende globale Themen jenseits der Frage, wie viele Menschen Einlass in die Festung Europa erbitten.

Die vierte Gefahr betrifft die ethische Legitimationsbasis und Akzeptanz von Entwicklungszusammenarbeit. Reduzieren wir diese unter dem Stichwort Fluchtursachenbekämpfung auf die Aufgabe, uns die Probleme anderer Regionen vom Hals zu halten, agieren wir zynisch und egoistisch. Und wir blenden die Tatsache aus, dass die Bewältigung von Massenflucht andere, weitaus ärmere Weltregionen schon jetzt viel stärker belastet als uns im reichen Europa. Der Eigennutz als Rechtfertigungsgrundlage wird überdies in dem Moment brüchig, wo uns selbst Konsequenzen abverlangt werden, zum Beispiel, wenn der Schutz von Fischgründen oder die faire Kakaovermarktung in Afrika zu höheren Preisen bei uns führen.

Wasch mich, aber mach mich nicht nass – diese Devise kann nicht funktionieren, wenn es um wahrhaft strukturelle Ursachenbekämpfung miserabler Lebensperspektiven geht. Im gemeinsamen Haus Erde muss jeder seine Aufgaben erfüllen und auch Einschränkungen in Kauf nehmen. Es geht um unser aller Zukunft auf diesem Planeten. Diese ist unteilbar: Weder Nord noch Süd noch einzelne Staaten können die Erde für sich allein gewinnen und bewahren, ohne sie allen Völkern zuzugestehen. Diesen Horizont braucht Entwicklungszusammenarbeit – und nicht den Tunnelblick.

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