Klasse und Macht
Süddeutsche Zeitung, 25.11.2016
Didier Eribon, Soziologe; Interview: Alex Rühle
Der französische Soziologe Didier Eribon hat mit der Übersetzung seines Buchs „Rückkehr nach Reims“ in Deutschland den Überraschungserfolg des Jahres hingelegt. Eribon, der aus einfachsten Verhältnissen stammt und bekannt wurde mit Büchern über Michel Foucault, Claude Lévi-Strauss und die Geschichte der Schwulenbewegung, erzählt in seinem nonfiktionalen Reims-Roman anhand seiner Mutter, wie sich die abgehängte Bevölkerung auf dem Land seit den Achtzigerjahren dem Front National zugewandt hat, weil sie das Gefühl hatte, dass die Sozialisten sich nicht mehr um sie kümmern. Lässt sich diese Diagnose auf andere Länder ausweiten? Gibt es so etwas wie Klassen überhaupt? Und was ist zu tun? Fragen wir ihn selber, in einem Café in Paris, bevor er nächste Woche nach Berlin auf Lesereise kommt.
SZ: Herr Eribon, Trump hat die Wahl gewonnen und . . .
Didier Eribon: Hören Sie, ich weiß nicht, was ihr alle wollt. Ich habe ein Buch über meine Mutter geschrieben und jetzt soll ich Brexit, Trump und die Welt erklären. Na ja, wahrscheinlich liegt es an den Kapiteln, in denen ich anhand meiner Mutter zeige, wie eine ganze Gesellschaftsschicht im Verlauf der letzten drei Jahrzehnte das Gefühl bekommen hat, vergessen zu sein – und wie sie darauf reagiert hat.
Was ist denn in den 30 Jahren passiert?
Die linken Politiker haben angefangen, mit Wirtschaftsbossen zusammenzuarbeiten, haben sich von der Industrie Panels bezahlen und Thinktanks finanzieren lassen und verkündet, man müsse endlich die Grenzen zwischen rechts und links auflösen. In der Geschichte hat das immer bedeutet, dass die Linke ihre Positionen aufgibt und sich nach rechts bewegt. So kam’s dann auch: Die Sozialdemokratie hat ihr zentrales Anliegen, die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit, über Bord geworfen.
Gerhard Schröder und Tony Blair hätten Ihnen seinerzeit geantwortet, dass eine wirksame Sozialpolitik in erster Linie Arbeitsmarktpolitik sein müsse: Wir machen die Zukurzgekommenen fit für den Markt. Wir geben ihnen Verantwortung, jeder ist ab jetzt seines Glückes Schmied.
Das funktioniert nur für die wenigen, die eine Schmiede haben. Schauen Sie sich um in Großbritannien. Der ganze Norden ist eine sozialpolitische Wüste. Die große Lebenslüge der modernen Linken bestand und besteht darin zu sagen, es gebe keine Klassen mehr. Aber es gibt nun mal all diese abgehängten Menschen. Meine Eltern fühlten sich schlechterdings verraten von den linken Parteien. Und haben dann eben diejenigen gewählt, die ihnen versprechen, dass sie sich um sie kümmern.
Sie beschreiben, wie Ihre Eltern und alle aus ihrem Umfeld im Kollektiv zum FN gewechselt sind. Aber jeder für sich. Nicht mit dem einenden Stolz, mit dem sie sich früher zur Sozialistischen Partei bekannt haben, sondern heimlich, mit schlechtem Gewissen, so wie man mit hochgeschlagenem Mantelkragen ins Pornokino geht. Woher diese Scham?
Die gibt es so nur noch in ihrer Generation. Heute hat die Rechte die kulturelle Hegemonie, man bekennt sich dazu, machen schließlich alle so, ist cool. Aber für meine Mutter war diese Partei ja eigentlich noch der Erzfeind. Als ich sie also fragte, ob sie je FN gewählt hat, leugnete sie das zunächst rundherum ab: „Nie! Wie kommst du denn darauf.“ Als ich insistierte, sagte sie irgendwann: „Na gut, ich geb’s zu, einmal. Das war aber nur als Warnschuss gedacht!“
Was meinte sie mit dem Warnschuss?
Dasselbe, was ein Mann nach der US-Wahl gesagt hat: „Ich habe Trump gewählt, um zu zeigen, dass ich existiere. Da mich keiner hört, mach ich jetzt Krach.“
Aber die These, dass nur abgehängte Weiße Trump gewählt hätten, lässt sich doch nicht halten. In Beverly Hills haben auch fast 50 Prozent Trump gewählt.
Natürlich, Trump hat Wähler aus allen Schichten erreicht. Aber wenn die Demokraten oder hier bei uns die verschiedenen Linken nicht mal mehr ihre Stammklientel überzeugen, dann ist das ein wahlentscheidender Punkt. Und es ist ja nicht nur ein Kreuzchen alle vier Jahre, die Menschen geraten in deren Diskurssphäre, lesen das Breitbart-Fake-News-Zeug oder bei uns die identitären Blogs und wählen nächstes Mal in voller Überzeugung die Rechtspopulisten. Ich habe in meiner Familie gesehen, wie sich das Weltbild verschoben hat. Aus: „Wir Arbeiter gegen die Bourgeoisie“ wurde allmählich „Wir Franzosen gegen die Migranten“. Heute ist das völlig verfestigt.
Aber war dieses frühere „Wir hier unten gegen die da oben“ denn eine noblere Dichotomie? Waren die Kommunisten bessere Menschen? Sie beschreiben in Ihrem Buch doch sehr anschaulich, wie engstirnig und gemein das Klima war.
Oh Gott, ich will weder die erzreaktionäre kommunistische Partei verherrlichen noch die drei Jahrzehnte, die bei euch Wirtschaftswunder und bei uns „Trente Glorieuses“ heißen. Glorios war bei uns zu Hause gar nichts, es war ein graues Elend, ich hatte oft Hunger. Und natürlich gab es massive Vorurteile, gegen alle, die anders sind. Ich als Schwuler musste aus dieser Familie fliehen. Aber diese Ausgrenzung der Randgruppen stand nicht im Zentrum. Die große Erzählung war: Wir einfachen Leute gegen die Bosse. Wenn die Politik dann plötzlich leugnet, dass es so etwas wie eine Unterschicht gibt, wenn man den Leuten plötzlich nur noch sagt, soziale Determination gibt es gar nicht, jeder kann es schaffen, dann suchen sie sich ihre Zugehörigkeit eben anders, bitte schön, sind wir eben keine Klasse, sondern das zu kurz gekommene Volk, dem die Flüchtlinge die Sozialzuschüsse wegnehmen.
In dem, was Sie sagen, vermischen sich zwei Argumente, das soziologische – es gibt Klassen – und ein politstrategisches: Man muss den Wählern ein Zugehörigkeitsgefühl bieten. Viele sagen nach dem Brexit und der Trump-Wahl, die Linke sei nicht charismatisch genug. Glauben Sie, der argentinische Soziologe Ernesto Laclau hat recht, wenn er einen linken Populismus postuliert?
Gibt es längst. Podemos in Spanien oder Syriza in Griechenland, das sind linkspopulistische Parteien. Podemos hat mich anfangs fasziniert. Aber ich glaube, dass dieser linke Populismus mit dem Feuer spielt.
Inwiefern?
Weil er sich einer gefährlichen Rhetorik bedient: Wir, das Volk, gegen die Oligarchie, wir, die Nation, gegen die Globalisierung – das ist Wort für Wort der Diskurs von Marine le Pen. Podemos tut so, als gebe es ein homogenes Volk, das die Heimat als gemeinsamen Referenzpunkt hat. Dann sagen sie noch, links, rechts, das hat sich überlebt, kommt alle zu uns. Aber sie bereiten damit anderen Ausschlussmechanismen den Boden, von denen wir vorhin sprachen: Gehören Homosexuelle zum Volk? Flüchtlinge, die im Mittelmeer ertrinken?
Es gab andere Versuche des Linkspopulismus, die nicht über Identitätspolitik liefen: Die „99 Prozent“ in Amerika oder „Nuit Debout“ in Frankreich.
Ja. Und beide Bewegungen fußen auf einer Lebenslüge. Die 2000 Pariser Studenten und Künstler, die da an der Place de la République protestiert haben. Ich bin unbedingt auf deren Seite, aber wenn sie sagen, sie seien das Volk, muss man ihnen leider sagen: Seid ihr nicht. Das Volk lebt in den leergeräumten ländlichen Gegenden, hat keine Ahnung, dass ihr hier rumsteht, und wählt zu 30 bis 40 Prozent Front National. Und die paar Menschen, die im Zuccotti Park gecampt haben, haben mit den unteren 50 Prozent der Amerikaner auch sehr wenig gemeinsam.
Viele sagen nach der US-Wahl auch: Die Demokraten haben sich zu sehr um die Rechte der verschiedensten Gruppen gekümmert. Lasst das jetzt mal wieder bleiben mit eurer Minderheitenpolitik und kümmert euch um die soziale Frage. Ist doch kein Wunder, dass sich der einfache weiße Mann im Stich gelassen fühlt, wenn ihr nur noch über Transgendertoiletten diskutiert.
Ich halte die Kämpfe um die Rechte von Frauen, LGBT oder Flüchtlingen für sehr zentral. Und wenn Leute wie der Amerikaner Mark Lilla das jetzt anprangern, würde ich das mit Vorsicht genießen. Lilla war immer ein erzkonservativer Denker, der selbst gegen den Feminismus angeschrieben hat und Autoren herausgab, die gegen Schwule und Lesben gewettert haben.
Lilla ist aber nicht der Einzige, der so etwas geschrieben hat. In Frankreich hat Alain Badiou ganz ähnlich argumentiert, und Slavoj Žižek hat die US-Demokraten schon im Sommer angegriffen.
Badiou und Žižek beschreiben die Homosexuellen als Egoisten, die den Gesellschaftsvertrag aufkündigen und nur an ihren dekadenten Partikularinteressen interessiert seien. Mit denselben Argumenten wurde in den Dreißigerjahren die Hexenjagd gegen André Gide geführt. Jacques Lacan hat in derselben Zeit den Feminismus dafür angegriffen, dass dadurch der Platz des Vaters geschwächt und die „symbolische Ordnung“ zerstört werde. Man ist da schnell beim gesunden Volkskörper, und jede Minderheit, die darin für sich besondere Rechte einfordert, stört das eingespielte Funktionieren der Gesellschaft. Marine le Pen sagt nichts anderes: Wir haben dem Individualismus gehuldigt und so den einfachen Franzosen aus dem Blick verloren.
Ich fasse zusammen: Bewegungen wie Podemos nutzen eine zwar populistisch-griffige, aber nationalistische Rhetorik, die Leute von Nuit Debout hocken in ihrer weltfremden Großstadtblase, und die selbstkritische Linke fängt drei Wochen nach der Wahl damit an, eigene Leute auszugrenzen. Was müsste denn Ihrer Meinung nach passieren?
Žižek ist kein selbstkritischer Linker, sondern ein faschistoider Feuilletonclown. Wir brauchen soziale Bewegungen, die sich grenzübergreifend vernetzen. Wir müssen uns viel lauter und offensiver einmischen. Und auf lange Sicht wäre es am allerwichtigsten, das Schulsystem radikal zu reformieren.
Wir erleben die dramatischste Krise der Demokratie, und Sie wollen erst mal unsere Schulen umbauen?
Eine Karte mit den Wählern rechtspopulistischer Parteien in Frankreich, Österreich, Großbritannien ist jeweils deckungsgleich mit der Karte, auf der das Niveau der Schulabschlüsse aufgeschlüsselt wird. Je mehr Schulabbrecher, desto populärer der FN.
Der Demoskop Nate Silver hat gerade dasselbe für die USA belegt: je höher die Schulabschlüsse in einem Wahlbezirk, desto mehr Stimmen für die Demokraten. Und umgekehrt. Scheint also was dran zu sein. Aber was Ihren Reformvorschlag angeht: Das Schulsystem ist doch durchlässiger geworden, oder nicht?
Träumen Sie? Die Vorbereitungsklassen für unsere Grandes Écoles, also die paar Schulen, durch die die zukünftige Elite bis heute durchmuss, sind sozial geschlossener als 1960. Sie finden da kein einziges Angestelltenkind mehr, ganz zu schweigen von Arbeitern. Wir haben in den Schulen eine enorme soziale Segregation.
Im Mai wählt Frankreich einen neuen Präsidenten. Oder erstmals eine Präsidentin. Haben Sie eine Prognose?
Ich tippe auf eine Stichwahl zwischen Marine le Pen und François Fillon. Fillons wirtschaftspolitisches Vorbild ist Margaret Thatcher – wer streikt, gehört eingesperrt. Aber er ist auch ein erzkonservativer Biedermann, der populär ist bei den katholischen Fundamentalisten. Insofern wird le Pen es schwer haben gegen ihn, der moderne, gemäßigte Alain Juppé wäre für sie ein leichterer Gegner gewesen. Wenn es so kommt, werden viele Franzosen im Mai einen beinharten Rechten wählen müssen, um Marine le Pen zu verhindern.